Rettungsübung vor Rügens Küste: Hubschrauber-Besatzung hievt Passagier von der Schweden-Fähre

Mukran/Ystad. Es passiert kurz nach dem Ablegen am Fähranleger in Mukran: Eben noch hat Mariyan Stoev per Funk das Auslaufen des Katamarans „Skane Jet“ in Richtung Schweden bei der Sassnitzer Hafenbehörde bekannt gegeben, da greift der junge Kapitän erneut zum Funkgerät: Es gibt einen Notfall an Bord! Ein Passagier habe sich verletzt. Sein Kollege, Chief-Officer Marcel Eilert, schnappt sich den knallroten Planen-Rucksack, der auf der Brücke hängt, und wetzt damit in den Passagierbereich. Den vermeintlichen Patienten, der vor der Treppe auf dem Rücken liegt, kennt er gut. Es ist sein Kollege Hauke Nickelsen, Betriebsleiter der Reederei FRS Baltic, die die Fährlinie zwischen Mukran und dem schwedischen Ystad betreibt. An diesem Sonnabend soll die Luftrettung geübt werden.

Keine Passagiere unterm Achterdeck
Nicht nur Marcel Eilert und der Rest der Besatzung sind eingeweiht; auch die Passagiere an Bord wissen Bescheid. „Wir haben das im Vorfeld auf unserer Internetseite und bei den Buchungen kommuniziert.“, sagt der Geschäftsführer von FRS Baltic und an diesem Tag auch Moderator. Mit einem Mikrofon in der Hand steht er auf dem Passagierdeck und erklärt den Reisenden, was gerade vor sich geht. Die Fahrgäste hatte er gleich zu Beginn der Überfahrt gebeten, sich im vorderen Teil des Decks zu versammeln. Nicht nur, um das Geschehen besser verfolgen zu können. Über dem hinteren Teil wird später der Hubschrauber in der Luft schweben. Sollte es bei dem Einsatz eine Havarie geben und etwas aufs Deck fallen, könnte das für die darunter sitzenden Fahrgäste gefährlich werden.

Rettungshubschrauber startet von Güttin aus
Marcel Eilert hat den vermeintlichen Bruch mittlerweile inspziert. Es sähe nach einer ernsthaften Verletzung aus, informiert er den Kapitän auf der Brücke per Funk. Der entscheidet schnell und antwortet auf Englisch: „Okay, ich rufe den Helikopter.“ Geschäftsführer Bruns sieht auf seine Uhr: 12:41 Uhr, verkündet er über das Mikrofon. „Schau’n wir mal, wie lange der Helikopter braucht.“ Der ist in Güttin stationiert. Hier befindet sich einer von drei Standorten des Unternehmens „Northern HeliCopter“, das schwerpunktmäßig Rettungseinsätze auf See fliegt. Einige hundert sind es im Jahr auf Nord- und Ostsee. 2020 waren es von Güttin aus mit insgesamt 65 und auch an den anderen beiden Standorten in Emden und St. Peter Ording etwas weniger als sonst. Zu Corona-Zeiten ist auch auf dem Wasser weniger los.
Nach etwas mehr als zwölf Minuten drängen sich die Passagiere an den Fenstern, die zum Achterdeck zeigen. Erst ist das Brummen hoch oben in der Luft zu hören, dann ein kleiner Punkt, der schnell näher kommt. Nur zwei, drei Fotografen dürfen jetzt noch draußen an Deck sein. Sie tragen Geschirre, über die sie mit dem Geländer verbunden sind. „Die Rotorenblätter erzeugen beim Anflug einen Abwind bis zu Stärke acht bis neun“, erklärt Moritz Bruns diese Vorsichtsmaßnahme. Wer ungesichert darunter steht, könnte sprichwörtlich von Deck gefegt werden.

Auf Luftrettung spezialisiert
Das gilt auch für den Notfall-Arzt Rolf Engel und den Notfallsanitäter Jan Gartemann. Letzterer ist ein medizinisch-technisches Besatzungsmitglied des Rettungshubschraubers und auf solche Einsätze spezialisiert. Der Wind weht mit 15 Knoten, das entspricht etwa Stärke vier bis fünf, aus Nordost, als der Hubschrauber in etwa zehn Metern Höhe über dem Katamaran schwebt. Als der Arzt und sein Assistent aus dem Helikopter über Seilwinden herunter auf das Schiff gelassen werden, schäkeln sie die Gurte ihrer Anzüge sofort in einem eigens dafür vorgesehenen Seil, das über dem Achterdeck gespannt ist, ein und eilen zur Kabinentür. Der Chief-Officer, der mit Unterstützung der Kollegen in der Zwischenzeit den „Patienten“ auf einer Trage bis kurz vor die Tür gebracht hat, schildert kurz dessen Zustand. Dann übernehmen die medizinischen Profis.

Kurzzeit-Narkose für den Weg in die Klinik
„Können Sie ihre Finger bewegen?“ „Welchen Finger fasse ich jetzt an?“ Wann haben Sie zuletzt etwas gegessen?“ Hauke Nickelsen spielt den Verletzten mit Bravour, liegt mit Leidensmiene auf der Trage und nickt schwach und kurz, als ihm der Notarzt erklärt, wie es jetzt weitergeht. Vermutlich habe sich der „Patient“ bei dem Sturz eine Unterarmfraktur zugezogen. Die dadurch entstandene Fehlstellung müsse schnellstmöglich operativ korrigiert werden – weshalb der „Verunglückte“ mit dem Hubschrauber in die nächste Klinik gebracht werde. Bis dahin bekomme er einen Tropf und ein starkes, kurzzeitig wirkendes Schmerzmittel. „Sowas wie eine Kurz-Narkose für 15 Minuten“, erklärt Rolf Engel. Vorsichtig wird Hauke Nickelsen ein spezielles Gurt-Geschirr übergestreift. Dann geht es auf der Trage ab nach draußen.

Über ihren Sprechfunk haben die Mediziner an Deck mit der Hubschrauberbesatzung Kontakt gehalten und sie wieder herangerufen. Der Pilot und sein Ko-Pilot drehen im Helikopter in einigem Abstand zum Schiff Runden über der Ostsee. Der Hubschrauber soll nur dann über dem Katamaran stehen, wenn es wirklich nötig ist. Im Falle eines Triebwerkproblems, bei dem Teile des Helikopters oder die ganze Maschine vom Himmel stürzen, wären die Schiffspassagiere sicherer. „Aber keine Sorge“, beruhigt Moritz Bruns wie ein Kreuzfahrtdirektor die Passagiere, „so ein Hubschrauber hat zwei Triebwerke und kann im Fall der Fälle auch mit einem fliegen – wenn die Windbedingungen günstig sind.“

Im Tandem in zehn Meter Höhe gehievt
So ruhig wie an diesem Tag auf der Ostsee ist es nicht immer. Jan Gartemann und seine Kollegen waren vor kurzem einem Krabbenfischer in der Nordsee zu Hilfe geeilt. Da sei es deutlich rauer zugegangen. Der trotz des nur leichten Wellengangs unruhig schaukelnde Katamaran ist für die Retter aus der Luft im Vergleich zu einem kleinen Krabbenkutter ein leicht und einfach zu erreichender Einsatzort. Im Tandem nimmt der Notarzt den „Patienten“ im Geschirr mit an Bord. Der Hubschrauber dreht kurz ab und steuert erneut auf den Katamaran zu. „Wir müssen unseren Hauke doch wieder an Bord holen“, erklärt der Reederei-Geschäftsführer das Manöver.

Nach der Übung ans Büfett
Das wird diesmal bei normaler Reisegeschwindigkeit geprobt. War das Schiff beim ersten Anflug auf seiner Position so gut wie verharrt, gibt der Kapitän jetzt Gas. „34 Knoten“, sagt Mariyan Stoev nach einem Blick auf die Instrumente. Das sind rund 62 km/h. Und auch diesmal funktioniert es: Hauke Nickelsen wird „geheilt“ aus dem Hubschrauber wieder an Deck entlassen, der Notfallsanitäter an Bord des Hubschraubers gehievt. Dann entschwinden die fliegenden Retter in Richtung Rügen – und die Passagiere des Fährschiffs gehen zurück auf ihre Plätze oder stärken sich am Büfett. Mit knapp einer halben Stunde Verspätung erreichen sie die südschwedische Küste bei Ystad.

Als der „Skane Jet“ sie wieder in Richtung Rügen verlässt, regnet es. Trotzdem liegt über dem Gesicht von Moritz Bruns ein Strahlen, als er auf der Brücke steht. „Ich bin sehr zufrieden“, sagt er. „Es hat prima geklappt, auch wenn es hier und da – wie immer – noch ein paar Kleinigkeiten gibt, die man besser machen kann. Das heben wir uns dann für das nächste Mal auf“, meint er augenzwinkernd.


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Maik Trettin (Ostsee-Zeitung)
Foto: Nico Offermann